badgebadge
Kitzbüheler AnzeigerJob AnzeigerImpulsServus
Kitzbüheler Anzeiger
minddoc-online-therapie-app-stress-arbeit

„Zvü“ ist ein Kobold mit vielen Gesichtern

Die moderne Arbeitswelt überrollt dank KI alle Branchen förmlich mit mehr Daten, Dokumentationsaufwand und Effizienzdruck. Spürt man das auch im gesteigerten Beratungsbedarf?

Ja, der Beratungsbedarf steigt unglaublich. Die moderne Arbeitswelt mit den unzählig vielen Möglichkeiten ist nicht zu trennen vom inneren Erleben und den daraus resultierenden inneren Dilemmata und Entscheidungsnöten. Der Leidensdruck erscheint hier immer größer, lähmt und macht sehr unzufrieden. Die Vielfalt ist heute unüberschaubar und – für erfahrene Manager genauso wenig greifbar wie für Kinder und Jugendliche. Wir haben gegenwärtig so viele Möglichkeiten – ganz zu schweigen von der Zukunft! Diese mentale Unbeschränktheit führt heute oft dazu, dass nichts mehr übrig bleibt von dem, was man wirklich vorwärtsbringen will bzw. was man wirklich möchte. Vüzvü Content bei gleichzeitig immens großer innerer Leere. Viktor Frankl sprach bereits 1940 vom „existentiellen Vakuum“ – das ist heute aktueller denn je, obwohl sich der Wohlstand und die Freiheit der Wahl seither kontinuierlich gesteigert hat.

Weil so viel möglich ist, kann man sich nicht mehr zurücklehnen, wenn etwas geschafft ist und einfach mal drüber freuen, dass etwas erledigt wurde?
Genau. Ich erlebe bei sogenannten Hochleistern einen großen Frust, die Freizeit bzw. die Zeit der Entspannung nicht optimal nutzen zu können. Diese Klienten kommen dann fix und fertig in die Beratung und fragen, wie sie am Wochenende mehr Energie für das haben, was sie sich sonst noch vorgenommen haben.

Schließlich soll man auf eine ausgewogene Life-Work-Balance bestehen. Arbeit ist heute scheinbar vom Leben getrennt und das würde ja bedeuten, dass durch diese Trennung Leben ganz frei von Arbeit sein muss – also Arbeit irgendwie mit Pflichterfüllung und Leben mit Genuss und Freiheit zu tun hat. Ganz schöner Stress! Das würde ja bedeuten, Du trennst die Arbeit von deinem Leben und dann brauchst du ja auch noch ein Leben voller guter idealer Inhalte. Wie soll sich das bitte ausgehen?

Das heißt, es gibt sogar noch einen Freizeitdruck?
Total.

Und spielen diesbezüglich auch die Social-Media-Kanäle eine verstärkende Rolle?
Wir leben im Zeitalter der Vergleiche! Mit anderen Worten: Wir erleben uns im Kontrast zu anderen. Ja und die anderen schauen alle superglücklich aus und haben alles Mögliche an Zeug, was man selbst nicht hat.

Die damit einhergehende kognitive Verzerrung ist maßgeblich am mentalen Kollaps beteiligt. In der Psychologie nennt man das den „Avalanche-Effekt“. Du liegst mental wie gelähmt und blockiert unter der Lawine und nichts geht mehr. Egal was du da dann versuchst zu tun, es reicht (auch DIR selbst) nicht.

In der Beratung habe ich es oft mit erwachsenen Menschen in einer Starre zu tun, die im Leben nicht dort stehen, wo sie stehen möchten und gleichzeitig keine Ahnung haben, wohin sie überhaupt wollen. Historisch war diese Thematik bisher eher unwichtig. Da blieb oft keine Alternative und so wurde im TUN klarer, wer oder was man ist. Gegenwärtig zeigt sich da ein anderes Bild: Man hat scheinbar die Qual der Wahl und könnte etwas werden, jemand sein und Geld mit etwas verdienen, wofür man selbst kein Bild hat und dies keiner kennt.

Ich habe den Eindruck, dass die „Vergleicherei“ zum persönlichen Unglück und der Stagnation beiträgt.

AdobeStock_96802699

Wie kann es gelingen, dass man zu sich selbst findet?
Achtsamkeit ist heute in aller Munde. Ich finde man kann das auch einfach Haltung oder wie wir in Tirol sagen „Schneid“ nennen.

Es fängt mit einem Bewusstsein für sich selbst an. Trau ich mich mitzukriegen, wie es mir wirklich geht oder muss ich mich durch „permanent-Turnerei-im Hamsterrad“ davon ablenken?

Wer sich solche Einblicke zumuten kann, braucht dazu schlichte „Frustrationskompetenz“ – denn es fühlt sich nicht „fancy“ und „happy“ an, wenn man sich einsam, traurig oder verzweifelt fühlt oder das Gefühl von „Versäumnis“ entsteht.

Das allein ist schon mal nicht so einfach auszuhalten, deshalb verdrängen hier viele gerne, aber dies zu überwinden und anzuerkennen bedeutet zu sich selbst zu finden.

Das „Vü zvü“ hilft uns im Grunde sogar dabei überhaupt mal hinzuhorchen und mal nachzuschauen: „Wos wü i“. Der Beratungsbedarf ist unheimlich angestiegen, weil man diese Reflexion oft allein nicht mehr hinbekommt und die Lösung auch nicht im Kopf zu finden ist.

Warum nicht?
Im Kopf findest du gute Ideen, Strategien, Techniken, um das ZVÜ ein wenig in Griff zu bekommen, aber nie die absolute Lösung. Vielmehr geht es darum, kompetenter und orientierter im eigenen Erleben zu werden. Es ist sehr leicht sich in den Zeiten der vielen Möglichkeiten selbst zu verlieren und vielleicht war es sogar noch nie so wichtig ein eigenes stabiles Regulationssystem zu haben und sich selbst gut zu kennen.

Es geht somit nicht darum, was Anderes zu tun, sondern das Tun bewusster zu erleben, zu wählen und Unstimmigkeit zu ertragen.

Zum Beispiel: Eine Führungskraft kommt in die Beratung und weiß nicht mehr weiter. Hat Stress, verliert sich in den Aufgaben, prokrastiniert in Projekten, hätte gerne mehr verantwortungsbewusste Mitarbeitende und auch einen verständnisvolleren Partner, fleißigere Kinder und mehr Entspannung in der Freizeit… Stattdessen hängt die Person fest, kann geistig nicht mehr abschalten und verliert sich. Einfach Vüzvü!

Würde man dieser Person nun auch noch ein paar Mental Health Tricks auferlegen und zum Meditieren auf den Biohof schicken wäre das wohl eher Mehr vom Gleichen. Nämlich die Steigerung von Vüzvü.

Die Lösung, nach der wir heutzutage alle suchen, ist kein Zustand, der zu erzeugen ist, es geht eher um einen Weg, den es zu gehen gilt, um sich selbst besser zu verstehen: Wobei steh ich mir im Weg? Was treibt mich an? Wie steh ich zu mir? Was erwarte ich von mir und von anderen? Wie geh ich damit um, wenn Erwartungen und Wünsche unerfüllt bleiben?

Eigenes Bewusstsein erzeugt „emotionalen Spielraum“. Darum geht es in meiner Arbeit. Eigentlich kann man sagen, dass die Wahrnehmung von VÜZVÜ zur Charakterstärkung beiträgt und jeden dabei unterstützen kann die Handlungsmacht über sich selbst zu erlangen, um sinnbildlich ein CEO im eigenen Leben zu sein.

stress-am-arbeitsplatz

Wenn man sich von einer Situation überrollt fühlt: Wie kann man wieder dahin kommen, handlungsmächtig zu sein?
Ich muss erst einmal selbst wahrnehmen, wie es mir geht: überarbeite ich mich, esse ich angemessen, schlafe ich schlecht…?

Beobachte dich!

Beobachte, wie du auf dich selbst schaust! Häufig beobachtet man sich selbst negativ und schimpft innerlich über sich. Überleg mal: Würdest Du andere auch so behandeln wie Dich selbst?
Um handlungsmächtig zu sein, braucht es kurz gesagt die Fähigkeit Emotionen zu regulieren, Gedanken zu stoppen und sich gesund zu verhalten.

Wie kann man das berühmte Gedankenradl in der Akutsituation stoppen?
Gedanken kann man prinzipiell nicht stoppen, aber es gibt viele Möglichkeiten negative Kreisgedanken zu unterbinden. Da muss jeder für sich das Passende finden.

Du kannst dir zum Beispiel einen Timer stellen und dich erinnern lassen, dass Du an was Gutes und Gelingendes denken willst. Wenn Du bemerkst Du hängst in Gedankenschleifen fest, kannst du auch innerlich laut „AUS“ rufen und dich selbst unterbrechen. Mit Hilfe von bestimmten Atemtechniken, Zentrierungsübungen, Musik und anderer Ablenkung kann es auch gelingen, den Kopf zu stoppen.


In welcher Situation sollte man sich Hilfe von außen suchen?
Wenn du das Gefühl hast festzustecken oder immer wieder mit ähnlich unangenehmen Situationen konfrontiert bist und darüber länger als drei Minuten nachdenkst, dann sollte man ein niederschwelliges Angebot wahrnehmen.

Körperliche Frühwarnzeichen sind zB. Schlafstörungen, Muskelverspannungen, Erschöpfung, Herzrasen und Druckgefühl auf der Brust. Hier unbedingt mal alles checken lassen! Im Verhalten ist häufig Rückzug, Reizbarkeit, Impulsivität und Dauerarbeiten auffällig.

Symptome auf der gedanklichen Ebene sind z.B. ständige Selbstabwertung oder Schwierigkeiten in der Entscheidungsfindung. Emotionale Warnsignale sind z.B. weinen ohne Auslöser, Angstgefühle, diffuse Unsicherheit und sogar Suizidgedanken. Es ist ein Kreislauf auf allen Ebenen. Das geht vom leichten „Mir ist’s vü“ über „Mir ist’s zvü“ bis zu „Mir is‘ vü zvü“. Das Zuzugeben ist mit viel Scham behaftet.

Was kann man im Alltag für sich tun?
Die Auseinandersetzung mit dem persönlichen Vü und dem Vüzvü ist gleichzeitig auch immer die Chance, die wir haben, um selbst zu wachsen. Aber was viele schon mal üben könnten, wäre innerlich NETTER ZU sich SELBST ZU SEIN.

Foto_Petra_Ritter

Über Petra Ritter

Die gebürtige Kitzbühelerin ist Diplom-Psychologin und systemischer Coach. Sie arbeitet seit 25 Jahren auch über die Grenzen Deutschlands mit Einzelnen und Teams in Veränderungsprozessen. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die Wiedergewinnung von Kraft und Zuversicht und die mentale Gesundheit im Allgemeinen.

Suche