„Jeder kränkt und wird gekränkt“
Nichts anderes ist so tief verankert, so belastend, unvermeidbar und schicksalsbestimmend wie die Kränkung, schreibt der Psychiater Reinhard Haller in seinem neuen Buch „Die Macht der Kränkung“. Der Kitzbüheler Anzeiger hat vor seiner Lesung in St. Johann über das Gefühl gesprochen, das die Persönlichkeit eines Menschen formt, wie kein anderes - die Kränkung.
Herr Dr. Haller, Sie schreiben, dass Geringschätzung, Entwertung, Enttäuschung und Kränkung noch nie so tabuisiert wurden wie heute. Warum ist das so?
Wenn man die Wortwahl, vor allem der jungen Menschen, betrachtet, dann ist „cool“ eines der meist verwendeten Wörter. Kühl sein, keine Emotionen oder keine Schwäche zeigen und ja nicht zugeben, dass uns etwas trifft, ist zu einer Lebenshaltung geworden. In Wahrheit sind aber alle Menschen, vor allem auch die jungen, extrem verletzlich und liebesbedürftig - eigentlich ganz anders als es nach Außen hin dargestellt wird. Eine Schwäche, wie die Kränkung, passt nicht in das Bild. Wenn man Schul-Amokläufer analysiert, dann sind das alles tief gekränkte Seelen, denen man nichts angemerkt hat - ich glaube, das ist ein Symbol dafür, wie stark das Thema in unserer Zeit tabuisiert wird.
Kein gesunder Mensch ist gegen Kränkungen resistent - was kann man tun, um Kränkungen leichter zu verarbeiten?
Das allerwichtigste ist, dass man Kränkungen anspricht. Das Wesen der Kränkung ist ja, dass es nicht angesprochen wird, im Gegensatz zum Zorn, dem ich freien Lauf lassen kann. Ich fresse Kränkungen in mich hinein und dann beginnt es zu gären. Eine Kränkung führt oft viele Jahre danach erst zu einer Reaktion. Ich muss mir bewusst machen, dass nur ich selber bestimmen kann, was mich kränkt. Man sollte auch versuchen, die Botschaft hinter der Kränkung zu verstehen, weil irgendeinen wahren Kern haben sie meistens. Man sollte auch in die „Schuhe“ des Kränkenden schlüpfen und sich fragen, warum tut er das? Vielleicht ist er selbst gekränkt. Kränkungen können wir nicht lösen, Kränkungen sind Lebensaufgaben.
Kränkungen machen krank, wie äußert sich das?
Das Wort Kränkung beinhaltet ja schon „Krankheit“ und das Wort Beleidigung beinhaltet „Leid“. Tatsächlich basieren fast alle Suchtkrankheiten auf Kränkungen oder Lieblosigkeiten, die Jahre zurückliegen. Suchtmittel werden dann zur Betäubung eingesetzt. Wenn mich etwas kränkt, dann löst das in mir Stress aus, der Blutdruck steigt, das Herz schlägt schneller, der Stoffwechsel wird beeinflusst - das kann mit der Zeit chronisch werden. Man hat wissenschaftlich nachgewiesen, dass Menschen mit nicht behandelten tiefen Kränkungen ein sehr schlechtes Immunsystem haben. Zusammenfassend kann man sagen, dass viele psychische und physische Krankheiten auf Kränkungen zurückzuführen sind.
Wir alle kränken andere Menschen - oft auch unbewusst. Kann man das überhaupt verhindern?
Manches kann man nicht verhindern, oft weiß man es ja gar nicht, dass man jemanden kränkt - deshalb ist es so wichtig, Kränkungen anzusprechen. Der Hauptgrund, warum ich das Buch geschrieben habe, ist für das Thema zu sensibilisieren. Allein schon durch eine Auseinandersetzung mit dem Thema fördert man das Einfühlungsvermögen.
Können Kränkungen auch einen positiven Effekt haben?
Durch Kränkungen lernen wir uns selbst besser kennen. Sie treffen unsere sensible Stellen. Sie zeigen mir, wo liegen meine wunden Punkte, wie sind meine Werte angesiedelt.
Sie sagen, dass viele Schwerverbrecher eigentlich gekränkte Seelen sind - sollten wir deshalb mit Ihnen Mitleid haben?
Man darf Verbrechen nicht entschuldigen, aber tatsächlich ist es so, dass viele Delikte auf Kränkungen basieren. Die großen Menschheitsverbrecher, wie zum Beispiel Adolf Hitler, waren auch zum Teil gekränkte Seelen. Hitler war erfolgloser Straßenmaler und musste in einem Männerwohnheim übernachten. Ein Amokläufer an einer Schule in Deutschland gab als sein Motiv an, dass bei einer Klassenfahrt nach Rom keiner mit ihm das Zimmer teilen wollte. Zurückweisung und Kränkungen spielen oft eine große Rolle bei Delikten.
Aktuell erleben wir, besonders unter dem Deckmantel der Anonymität, eine Hetze gegen Flüchtlinge. Hat das auch etwas mit Kränkung zu tun?
Flüchtlinge sind gekränkte, traumatisierte Menschen. Dann kommen sie nach Europa und merken das man sie nicht will. Dabei bedenkt man gar nicht, dass Gastfreundschaft in deren Kultur einen enorm hohen Stellenwert hat - viel höher als bei uns - damit geht die Kränkung weiter. Umgekehrt muss man sagen, dass sich manche Einheimischen in ihrer Sicherheit gekränkt fühlen, weil sie fürchten dass es nicht genug Arbeit, Wohnraum etc. für alle gibt. Was ich damit sagen will, ist, dass das Thema Kränkung aktueller denn je ist, besonders im Internet. Was in den sozialen Netzwerken abläuft, nicht nur bei der Flüchtlings-Thematik, ist oft ungeheuerlich. Menschen werden in den Tod getrieben, weil sie das öffentliche an den Pranger stellen nicht mehr aushalten. Die Kränkungen bestimmen unser Leben und sterben nicht aus.
Johanna Monitze, Foto: ecowin