Kitzbüheler Anzeiger
03.11.2018
News  
 

„Israel kann man nicht verstehen“

In dem Buch „Fast ganz normal – unser Leben in Israel“ geben Ben und Daniela Segenreich einen spannenden Einblick in das Leben mit unterschiedlichen Kulturen und räumen mit so manchen Vorstellungen auf – denn auch in Israel fliegen einem nicht ständig die Kugeln um die Ohren.

Bevor Ben Segenreich am 7. November nach St. Johann kommt, sprach er mit dem Kitzbüheler Anzeiger über Widersprüche und Absonderlichkeiten, die es in Israel gibt und erklärt, warum man Israel eigentlich nicht verstehen kann.

Was hat Sie an Israel so fasziniert, dass Sie ausgewandert sind?
Ich war als junger Mensch oft in Israel auf Urlaub, auch weil wir da viele Verwandte hatten. Ich kannte Israel also gut, und nach und nach hat sich bei mir der Gedanke entwickelt, dass Israel das Land ist, wo man als Jude leben sollte. Aber tatsächlich auswandern – das ist ein schwerer Entschluss, und da spielen viele Faktoren eine Rolle, auch private.
Der letzte Ausschlag ist damals wohl daher gekommen, dass ich eine israelische Freundin hatte. Die Beziehung ist nach meiner Einwanderung bald auseinandergegangen, aber ich bin dann eben trotzdem in Israel geblieben.

Wenn man von Israel hört, denkt man an  Bomben und Krieg. Auch Sie erzählen in Ihrem Buch von schlimmen Momenten – wie hält man das aus?
Nein, man muss nichts „aushalten“, und man muss nicht besonders mutig oder leidensfähig sein, um in Israel zu leben. Das Leben hier ist „fast ganz normal“ – deswegen heißt ja unser Buch auch so. Die Vorstellungen über Israel sind sozusagen doppelt verkehrt. Viele Leute glauben, dass einem hier ständig die Kugeln um die Ohren pfeifen.

Ich höre immer wieder die Frage: Wir würden ja gerne Israel besuchen, aber ist das nicht zu gefährlich? Und wenn die Leute dann herkommen, sagen sie: Da ist ja nichts, das ist ja so idyllisch und fröhlich, wieso sind da keine Soldaten auf den Straßen? Also die Israelis denken nicht dauernd über den Konflikt und über Ideologien nach, sie gehen zur Arbeit und in die Schule und zum Sport und in den Supermarkt und ärgern sich vor allem über die hohen Preise – ganz „normal“.

Andererseits wiederum ist aber Israel wieder nicht ganz „normal“, weil es in sich widersprüchlich ist und in vielem einzigartig – es gibt sehr vieles, was es nur in Israel gibt und nirgendwo sonst und deshalb kann man Israel eigentlich gar nicht verstehen.

Das beginnt mit der Gründung oder Neugründung des Staates 1948: Ein Volk wird im Altertum besiegt und zerstreut, verschwindet aber nicht und kehrt 2000 Jahre danach zurück. Damit verknüpft ist die erstaunliche Wiederbelebung der hebräischen Sprache – sie ist heute die Mutter- und Alltagssprache von Millionen. Israel ist einerseits die „Startup-Nation“ und ein Weltklasse-Innovationszentrum, aber es hat andererseits einen Bevölkerungssektor, die strengreligiösen Juden, die sich von der Moderne abkapseln.

Israel ist eine stabile Demokratie westlichen Zuschnitts mitten im Orient mit seinen totalitären, sich selbst zerfleischenden Regimen. Israel hat eine der stärksten Armeen der Welt und ist zugleich anscheinend der einzige Staat der Welt, dessen Existenz in Frage gestellt und bedroht wird. Ich könnte die Liste dieser Widersprüche oder Absonderlichkeiten noch lange fortsetzen.

Wie begegnet man Österreichern in Israel?
Österreich ist ein kleines und friedliches Land, es wird daher in den internationalen und auch in den israelischen Medien selten erwähnt. Wenn Österreich doch erwähnt wird, dann hat das meistens direkt oder indirekt etwas mit der Nazivergangenheit zu tun. Allgemein wissen die Israelis aber recht wenig über Österreich.

Ich begegne immer wieder Israelis, die nicht sicher sind, welche Sprache man in Österreich spricht. Bei der älteren Generation, die die Geschichte kennt, gab und gibt es Vorbehalte und Vorwürfe gegen Österreich. Die jüngere Generation kennt sich da nicht so genau aus und bucht unbefangen den Skiurlaub in Kitzbühel oder Mayrhofen. Und der bekannteste Österreicher hier ist jetzt Andreas Herzog – der ist seit Kurzem der Cheftrainer des israelischen Fußballnationalteams, und die Sportpresse begegnet ihm mit großem Respekt.

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Österreich und Israel?
Es sind zwei kleine Länder mit fast genau gleicher Einwohnerzahl. Beide Länder sind bescheidene Fortsetzungen legendärer Reiche – da Salomons Königreich, dort die Donaumonarchie – und sind mitgeprägt und auch irgendwie belastet durch große Traditionen. Ähnlich wie Österreich ist auch Israel ein Sozialstaat mit recht rührigen Gewerkschaften, wobei allerdings die Sozialleistungen in Israel viel geringer sind als in Österreich. Damit hören die Gemeinsamkeiten aber schon auf. Man könnte als „Gemeinsamkeit“ noch die Holocaust-Überlebenden nennen, die aus Österreich entkommen sind und sich in Israel ein neues Leben aufgebaut haben. In gewisser Weise sind die ein Stück Österreich in Israel. Aber es waren nicht sehr viele, und die letzten, die noch unter uns sind, sind jetzt mehr als 90 Jahre alt.
 
Ihre Töchter mussten auch den israelischen Militärdienst absolvieren – hatten Sie Angst um sie?
In dem Zusammenhang ist es ein Glück, wenn man Töchter hat und keine Söhne. In Israel müssen zwar auch die Frauen in die Armee, sie werden aber nur ganz selten in Kampfeinheiten verwendet. Wer einen Sohn in einer Kampfeinheit hat, der macht wirklich eine schlimme Zeit mit furchtbaren Ängsten durch. Bei meinen Töchtern habe ich mir die größten Sorgen nicht während ihrer eigentlichen Dienstzeiten gemacht, sondern wenn Sie unterwegs waren, also wenn sie an einer Station auf den Bus oder den Zug warten mussten. Es gab nämlich immer wieder Anschläge auf Gruppen wartender Soldaten mit Fahrzeugen oder Messern.
 
Glauben Sie, gibt es jemals eine Chance auf Frieden in Israel?
Ich sehe nicht, wie sich – egal, welche Parteien oder Personen gerade an der Macht sind – eine israelische Führung und eine palästinensische Führung in absehbarer Zeit einigen könnten. Die Palästinenser können sich im Grunde nicht damit abfinden, dass es einen jüdischen Staat gibt. Die Israelis glauben im Grunde nicht, dass die Palästinenser jemals auf Gewalt und Terror verzichten werden.

Als einzig möglicher Ausweg gilt die „Zwei-Staaten-Lösung“, also die Gründung eines Palästinenserstaates. Dafür gab es in den letzten Jahrzehnten unzählige Ansätze, Rezepte und Pläne, doch alle sind gescheitert. Verändert hat sich nichts, und ich sehe keinen Grund, warum der nächste Plan, sollte einer vorgelegt werden, gelingen könnte. Die einzige Hoffnung ist, dass die Erwartungen heruntergeschraubt werden, dass Hass und Aggression abgebaut werden, dass die wirtschaftliche Lage der Palästinenser verbessert wird – vielleicht gibt es dann langfristig, also ein, zwei Generationen später, eine Chance auf Frieden.
 
Was haben Sie in Ihren Jahren in Israel über das Leben gelernt?
Vielleicht Skepsis und Besonnenheit gegenüber aufgeregten Prophezeiungen und nachgeplapperten „allgemeinen Meinungen“. Vom ersten Moment an habe ich in Israel ständig gehört: Das kann nicht so weitergehen, das Land steht nicht mehr lang, die Isolation, der Mangel an Ressourcen, die innere Zerrissenheit, die äußere Bedrohung…

Jetzt lebe ich seit 35 Jahren hier, und Israels Lage war noch nie so gut wie jetzt, bei allen Problemen. Man hört ständig, dass die Religiösen in Israel immer mächtiger würden, in Wahrheit wird ihr Einfluss immer schwächer. Man glaubt, dass in Jerusalem ständig die Menschen übereinander herfallen, in Wahrheit gehen die Angehörigen der vielen Kulturen und Religionen dort fast immer friedlich ihrem Alltag nach. Oder man empört sich im Chor über ein angeblich demokratiegefährdendes „Nationalstaatsgesetz“, das in Wahrheit völlig belanglos ist.

Also die menschliche und mediale Erfahrung in Israel hat mich gelehrt: Gerade wenn viele oder alle das Gleiche sagen, ist es vielleicht doch nicht ganz richtig, und man muss sich trauen, etwas anderes zu sagen.
Johanna Monitzer,  Foto: Segenreich

Angesagt
Ben Segenreich liest & erzählt
St. Johann  | Terror, Gasmasken, Sirenen, aber auch Hightech, gutes Essen und viel Lebenslust – all das ist Israel. Humorvoll, berührend und kenntnisreich zeichnen ORF-Korrespondent Ben Segenreich und seine Frau Daniela ein vielschichtiges Bild des kleinen Landes im Nahen Osten und räumen dabei mit vielen Vorurteilen auf. Die Parallelgesellschaften der Araber und der streng religiösen Juden werden ebenso thematisiert wie Israels Bild in den Medien. Das über 200 Seiten umfassende Buch „Fast ganz normal – unser Leben in Israel“ (ISBN 978-3-99050-126-9) ist im Amalthea Sigmund Verlag erschienen.

Am 7. November in der Alten Gerberei zu Gast

Ben Segenreich erzählt am Mittwoch, 7. November, in der Alten Gerberei in St. Johann anhand von Erinnerungen und Anekdoten, wie Mentalitätsunterschiede die österreichisch-israelischen Beziehungen belastet haben und lässt Zeitzeugen zu Wort kommen, denen er im Rahmen seiner Arbeit begegnet ist.  
Beginn ist um 19.30 Uhr, Einlass 18.30 Uhr.
Weitere Informationen und Reservierung (empfohlen) zum Abend mit Ben Segenreich unter www.literaturverein.at.

 
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