Kitzbüheler Anzeiger
15.12.2019
News  
 

"Behindert darf kein Schimpfwort sein"

Stephanie Pletzenauer wurde mit der Krankheit „Spinale Muskelatrophie“ geboren. Die Fieberbrunnerin ist eine Kämpferin. Offen spricht sie über ihre Krankheit und zeigt auf, was sich in unserer Gesellschaft ändern sollte.

„In love with live“ – steht auf Ihrem Instagram Account. Haben Sie sich jemals gewünscht, sie hätten diese blöde Krankheit nicht?
Vielleicht habe ich mir in der Tat, vor allem als ich noch jünger war, manchmal aus einer ersten Emotion heraus gewünscht, diese Erkrankung nicht zu haben. Aber letztlich kam ich für mich immer aufs gleiche Ergebnis: Stephanie du kannst jetzt im Selbstmitleid versinken, dein Leben an dir vorbeiziehen lassen oder eine Lösung finden.
Es gab also tatsächlich nie eine Situation in meinem Leben, in der die einzige Lösung gesund zu sein gewesen wäre, deshalb sehe ich auch gar nicht meine Behinderung als „blöde Krankheit“, aber vielmehr als Chance, etwas daraus zu machen und als persönliche Eigenschaft, die mich in meinem Handeln oder in einem Moment beeinflussen kann und ja auch meine Persönlichkeit formt. Wenn ich mir also die Frage stelle was wäre ich ohne diese Erkrankung?! Müsste ich sagen: nicht mehr ich…

Woraus schöpfen Sie Ihre positive Energie?
Ich bin eine Frau und habe auch meine Tage... Aber ich würde sagen aus denselben Quellen, wie die meisten Menschen - Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden und vor allem auch daraus Aufgaben zu haben.

Können Sie sich an den Zeitpunkt erinnern, wo Ihnen bewusst wurde, dass Sie eine körperliche Behinderung haben?
Barrieren, entsetzte Blicke oder ganz viel Mitleid sowie Organisation gehörten schon immer zum Alltag. Es gab jedoch einen Zeitpunkt, an dem mir bewusst wurde, dass mir diese Erkrankung alle meine Körperfunktionen nehmen wird. Nämlich als ich nicht mehr selbstständig essen und trinken konnte und nur im Liegen. Das war als ich ungefähr 14 war. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich sehe mich heute noch im Restaurant mit meiner Familie und Bekannten im Urlaub sitzen, wo ich das Besteck zu Boden geworfen hab und nur mehr geweint und geschrien hab, weil’s einfach nicht mehr ging.
Aber auch hier war für mich die Lösung letztlich nicht, diese Krankheit nicht zu haben, sondern, sich das Bedürfnis nach Hilfe eingestehen müssen – ich habe dann auch einen Deal mit mir selbst gemacht: du wirst den Verlauf deiner Krankheit nicht beeinflussen können, sie wird tödlich verlaufen (zu diesem Zeitpunkt hätte ich laut Befunden ohnehin schon mit 3 Jahren und dann mit 12 Jahren tot sein müssen). Jeder wird irgendwann sterben, also akzeptiere deine Behinderung als einen Teil von dir, aber das was dazwischen passiert, hast du selbst in der Hand.

„Du bist behindert“ – ist eine vielleicht auch oft unüberlegte Beschimpfung. Wie geht es Ihnen damit, wenn Sie so etwas hören?
Das bedenkliche für mich dabei ist, dass es in unserer Gesellschaft schneller einen Platz bekommen hat und im Alltag weitaus normaler als ein tatsächlich behinderter Mensch gesehen wird– ja ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass dieses Wort im Gebrauch als Schimpfwort mehr Toleranz erfährt als ein Mensch mit Behinderung!
„Behindert“ darf kein Schimpfwort sein. Es ist eine Varietät des menschlichen Lebens. Sprache vermittelt Werte. Werte, die unsere Gesellschaft behindern können. Es gibt genug Alternativen als Schimpfwörter, die langfristig weniger Stigmatisierung bewirken. Es sollte mehr Zivilcourage dagegen geben und weniger verharmlost werden.

Einige Menschen wissen nicht, wie sie sich Behinderten gegenüber verhalten sollen.
Diese Hemmungen spüre ich nicht nur bei mir vorerst Unbekannten, sondern auch bei Menschen, die eigentlich recht viel mit mir in Kontakt sind. Es gibt genau eine Situation im Kontakt mit Menschen für mich, die mir sagt, wie er oder sie im Grunde zu Menschen mit Behinderung steht – und das ist die Begrüßung.
Viele sagen einfach „Hallo“, wenn ich Glück habe zu mir und nicht nur zu meiner Begleitung und berühren mich gar nicht, andere bevorzugen es, meinen Rollstuhl anstatt mich anzufassen, wiederum andere berühren mich zwar, aber an Stellen, die für mich etwas fragwürdig sind, z.B. streichen sie mir über den Kopf oder über meine Wange – ich bin ja kein Hund und auch kein Kind, sondern eine 27-jährige Frau.
Ich versuche, Verständnis dafür zu haben und offen zu sein, damit sich die Situation langfristig von selbst ändert, aber wenn die Situation mal passt, wird es auch angesprochen. Aber natürlich gibt’s auch Menschen, die mich ganz normal begrüßen, wie jeden anderen auch und das tut gut, denn das zeigt mir, dass man auf Augenhöhe ist.

Sie sind Testimonial bei der Kampagne „Wir sind behindert“ zum 30-jährigen Jubiläum von „RollOn Austria“. Fehlt Behinderten oft das Selbstbewusstsein, um zu sagen: „Ja, so bin ich“?
Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass das zwingend mit einer Behinderung zu tun hat. Eher glaube ich, dass Menschen mit Behinderung viel zu wenig die Gelegenheit geboten wird, sich hinzustellen und zu sagen: „Ja, so bin ich“!
Wann sehen Sie zum Beispiel Menschen mit Behinderung im TV, in Zeitungen oder in Werbeaktionen? Wahrscheinlich meistens vor allem dann, wenn es darum geht, Spenden zu sammeln oder auf Missstände aufmerksam zu machen.
Fakt ist, uns wird ein grundlegend schweres Leben unterstellt und wir werden in eine Ecke gedrängt, aus der wir schlussendlich selbst rauskommen sollen.

Was mir fehlt, ist das Alltägliche! Warum werden z.B. keine schönen Frauen mit Behinderung für eine Makeup- oder Bekleidungs-Werbung gezeigt? Es würde in den Köpfen der Menschen so viel bewirken, aber wir werden, wenn überhaupt, für all diese alltäglichen Dinge als „Helden“ dargestellt. Warum sollten Menschen mit Behinderung z.B. ihren Partner nicht auch mal im TV suchen? Stattdessen wird das Thema Liebe und Sex tabuisiert und es werden künstlich Grenzen aufgezogen. Aber letztlich haben wir alle dasselbe Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung und ja, es kann sie auch zwischen gesunden und behinderten Menschen geben, aber es gibt leider immer noch sehr viele Vorurteile und es folgt auch oftmals eine Stigmatisierung im eigenen Umfeld und durch die Gesellschaft.
Zusammengefasst ist das Problem glaube ich wirklich nicht fehlendes Selbstbewusstsein, sondern, dass unsere Gesellschaft eine Norm aufstellt, die eigentlich nicht existieren kann.

Wann haben Sie sich zuletzt diskriminiert gefühlt?
Das werde ich eigentlich jeden Tag, indem z.B. die Geschäfte, Restaurants, Bars, Kinos, Banken, Ärzte etc. mich aussuchen – weil die meisten immer noch nicht barrierefrei sind und ich damit nicht die Wahl habe, wo ich zum Beispiel einkaufen gehe.
Dasselbe ist beim Weg dorthin, ich kann nicht den schnellsten oder schönsten gehen, sondern muss jenen nehmen, wo irgendwann auch wieder mal eine Abschrägung der Gehsteigkante ist. Wenn keine Abschrägung kommt oder sie mir ein Auto zuparkt, muss ich wieder umdrehen. Dasselbe ist mit Bussen, nicht jeder ist zugänglich, aber auch mit der Bahn, wenn ich spontan wohin muss, ist das Problem, dass ich nicht mitfahren kann, da ich mich 24h vorher anmelden muss.  
Die Beispiele sind leider noch unendlich und teilweise ist die Interpretation von Barrierefreiheit wirklich skurril, z.B. Treppen vor einem Lift.
Wir hätten in Österreich das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz u.a. für die Barrierefreiheit – ein bequemes Gesetz, ein bisschen so wie die österreichische Mentalität. Denn ich wäre berechtigt, Schadenersatz zu fordern. Aber was nützt mir das Geld? Eine Pflicht zur Beseitigung besteht nicht!
Was mir aber noch wichtig zu erwähnen ist: dass mich herabwürdigende Blicke von Erwachsenen teilweise immer noch kränken können – es wäre mir persönlich oft lieber, dass sie mich direkt fragen würden, was mir fehlt. Eine gesunde Neugier schadet nicht, Kinder haben die! Leider habe ich aber oft die Erfahrung gemacht, dass, wenn Kinder mich gesehen und ihre Eltern gefragt haben: „was ist mit der?“, diese gesagt haben: „schau da nicht hin“ oder „die ist arm“. Ein gesundes Kind wird sich schwer tun, diese durch die Erziehung eingetrichterte Hemmung später abzubauen. Ich glaube, dass eine frühe Bewusstseinsbildung Vorteile für das gesunde Kind und für behinderte Menschen bringt.

Anders gefragt: Haben Sie auch positive Diskriminierung erlebt – sodass Sie durch ihre Behinderung Vorteile hatten?
(lacht) In der Tat ist es manchmal von Vorteil behindert und Frau zu sein – ich habe quasi zwei Trümpfe! Was ich damit sagen will ist, dass es ja manchmal ganz witzig sein kann, aber die Schwelle, wo es zu Mitleid wird, schmal ist und ich nichts mehr hasse als Mitleid, denn das dient lediglich dazu, dass andere sich besser fühlen.
Ich erzähle Ihnen jetzt aber sicher nicht, wie ich meine Vorzüge hin und wieder nütze – aber ein typisches Beispiel aus meinem Alltag: Es passiert hin und wieder, dass ich, meist unabsichtlich, anderen über die Füße fahr, aber ich bin nie schuld. Im Gegenteil, die Personen entschuldigen sich bei mir und ich frage mich wofür? Ich fahre jemandem über die Füße und die Person entschuldigt sich.

Finden Sie, dass in Österreich genug für die behinderten Mitbürger getan wird?
Als Politikerin sollte ich jetzt wahrscheinlich sagen: „Ich habe absolut Verständnis für die Situation, aber das ist alles nicht so einfach…“. Aber als Mensch mit Behinderung muss ich sagen: hätte ich so viele Ausreden in meinem Leben gelten lassen, wie es die Politik tut, dann wäre ich heute nicht da, wo ich bin. Das grundlegende Problem in der Politik und Gesellschaft ist, dass ein Mensch mit Behinderung als Mehraufwand und nicht als Mehrwert gesehen wird.
Gerade der Staat drückt sich meiner Meinung nach teilweise gewaltig vor seiner Verantwortung. Bis heute ist die Abtreibung bis kurz vor Einsetzen der Wehen straffrei, wenn eine ernste Gefahr besteht, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde. Dadurch diskriminiert unser Rechtsstaat Menschen mit Behinderung schon im Mutterleib, indem er ein Leben mit Behinderung als weniger schutzwürdig und minderwertiger sieht als ein gesundes.
Er schiebt damit seine Verantwortung für das Leben des behinderten Kindes bereits vor der Geburt den Eltern zu und gleichzeitig lässt er sie teilweise mit ihrem Schicksal im Regen stehen, indem er immer mehr Hürden in der Bürokratie errichtet und bezüglich Barrierefreiheit eine schöne Alibi-Lösung geschaffen hat. Alle Politiker reden immer von Teilhabe, aber wenn sie ehrlich wären, müssten sie sich eingestehen, dass eine Teilhabe nur funktionieren kann, wenn die Barrierefreiheit in allen Bereichen zu 100% ohne Kompromisse umgesetzt wird. Außerdem wird einem von staatlichen Behörden vermittelt, dass Therapien oder Hilfsmittel ein in Ausnahmefällen zu genehmigender „Luxus“ seien. Wenn ich zynisch sein darf, kann ich behaupten, dass der Staat der einzige ist, der bei mir noch an ein Wunder glaubt, weil ich immer wieder nachweisen muss, dass ich auch tatsächlich einen Rollstuhl, ein Korsett oder Therapien brauche.
Hinzu kommt, dass es hierbei noch Unterschiede von Bundesland zu Bundesland gibt. In Tirol ist aber eine Behinderung nicht anders wie in Oberösterreich. Dasselbe gilt auch für die persönliche Assistenz, die nicht in jedem Bundesland vorhanden ist. Auch Menschen mit Behinderung sollen selbstbestimmt leben dürfen.
Der Staat entscheidet sich oft für die einfache Lösung: z.B .Heim. Ich bin der Überzeugung, dass es Aufgabe des Staates ist, für die Entscheidungsfreiheit behinderter Menschen Sorge zu tragen, denn eine Behinderung ist nie ein „persönliches Problem“, sondern eine gesellschaftspolitische Herausforderung, die hoffentlich irgendwann zur Normalität wird.

Wie würden Sie diesen Satz beenden: „Ein Mensch mit Behinderung zu sein, ist...“
…wie ein Mensch zu sein. Johanna Monitzer

Das Interview musste stark gekürzt werden – die ungekürzte Version lesen Sie hier

„Ich akzeptiere die Behinderung als einen Teil von mir“, sagt Stephanie Pletzenauer. Was die Fieberbrunnerin nicht akzeptieren will, ist Diskriminierung. Foto: Privat

 
Kontakt
Tel.: +43 (0) 5356 6976
Fax: +43 (0) 5356 6976 22
E-Mail: info@kitzanzeiger.at
Virtuelle Tour
Rundblick - Virtual Reality
Werbung
 
Zurück Aktuelle Gemeinde Archiv Suchen